Q_P bewegt sich in Spannungsverhältnissen, die sie reflexiv bearbeitet

Liebe Autor_innen, vielen Dank für die inspirierenden Thesen! Super!

Doch möchte ich nach dem Lesen eurer Vorüberlegungen anregen bzw. im Sinne queerer Bildung sogar darum bitten, eine weitere These zu ergänzen: Q_P bewegt sich in Spannungsverhältnissen, die sie reflexiv bearbeitet

Wie komme ich zu dieser m.E. sehr wichtigen These? Wieso habe ich diese These angeregt? Ich bin beim Lesen der Erklärung des gaps und vor allem beim ersten Satz eurer Vorüberlegung hängen geblieben. Ihr wollt euch mit dem Queer_Pädagogik Manifesto der Frage annähern, ‚was Queere_Pädagogik sein kann, ohne festzulegen, was Queere_Pädagogik sein soll‘. Diese Formulierung wirkt auf mich zu beliebig, auch wenn ich eure Intention teile, die Debatte um queere Pädagogik weiterhin dezentriert, dynamisch und partizipativ ausgerichtet zu führen und zu halten. Meines Erachtens braucht es jedoch dann, wenn ein pädagogischer Anspruch (wissenschaftsbezogen wie ethisch) mit den Thesen verbunden sein soll eine Verständigung über den Horizont von Q_P, über das, was ich an anderer Stelle – im Kontext kritischer Bildungs-und dekonstruktiver Subjekttheorie – als ‚Essentials queerer Bildung‘ bezeichnet habe. Für die pädagogische Praxis habe ich versucht, dies auf durchaus beweglich zu haltende und dennoch klar umrissene Orientierungslinien zu übertragen. Mein Hinweis auf die Gefahr, dass Q_P aufgrund unspezifischer Offenheit zu einem beliebigen Begriff werden könnte, speist sich aus der Einsicht, dass Pädagogik immer politisch und in gewisser Weise normativ ist und sich meiner Meinung nach dazu auch klar bekennen sollte. Dies liegt auf einer anderen Ebene als eure in den Vorüberlegungen auf den ersten Satz folgende grundsätzliche Benennung dessen, um welche Inhalte es bei Q_P gehen soll – gleichwohl diese Benennung ja selbst schon einen normativen Horizont aufspannt (der durch die totale Offenheit, die ihr mit dem gap verbindet, durch das ‚Kann ohne jegliches Soll‘, jedoch zugleich verschleiert wird).

Wie können wir mit dem Spannungsverhältnis zwischen wesentlichen Erkenntnissen der Queer Theory und der zweifelsfrei notwendigen Offenheit anders umgehen? Meines Erachtens stellt es ein Qualitätsmerkmal queerer Bildung – und hoffentlich auch von Q_P –dar, Spannungsverhältnisse als solche zu benennen und dazu einzuladen, sich reflexiv in diesen zu bewegen – also auch in dem zwischen essentiellen Grundsätzen und dynamischer Offenheit. Dies ist etwas anderes, als ‚nur‘ keine Angst vor Widersprüchen zu haben. Es heißt, sich explizit mit diesen auseinander zu setzen und diese Auseinandersetzung als einen zentralen Wert zu erkennen. Das Entscheidende ist dann weniger, welche Gefühle die Widersprüche auslösen und wie sie ausgehalten werden können, sondern viel mehr, wie mit ihnen und ihren Effekten umgegangen wird. Das mag wie ein sehr feiner Unterschied klingen, ist m.E. in seiner Bedeutsamkeit aber ein großer, der daher wert ist, expliziert zu sein.

Mein Hintergrund: Als Lernende* und Lehrende*, leiste ich seit über 25 Jahren Beiträge zur Entwicklung und Institutionalisierung einer Queeren Pädagogik in der deutschsprachigen erziehungswissenschaftlichen Geschlechterforschung. Dabei verarbeite ich sowohl Impulse der pädagogischen LGBTIAQ+ Bewegung als auch der Kritischen Bildungstheorie und der poststrukturalistischen Gender & Queer Studies. Um vielfältige geschlechtliche und sexuelle Lebensweisen, das Dynamische und Uneindeutige geschlechtlicher und sexueller Identität und der damit verbundenen Selbstverständnisse in der Bildungsarbeit aufzugreifen wie zu befördern halte ich es nicht für zwingend notwendig, immer mit dem Term queer zu operieren. Bedeutender als der Name erscheinen mir die genannten Bildungsgehalte selbst, bspw. das Dynamische von Geschlecht und das mit diesen Gehalten verbundene Potential zur Transformation des vorherrschenden Denkens, Handelns und Seins. Wichtig ist mir also, dass es sich um eine queere Pädagogik im Sinne wesentlicher Erkenntnisse der Queer Studies handelt. Umgekehrt lassen sich in der pädagogischen Praxis immer wieder Ansätze finden, die sich queer nennen, bei denen meines Erachtens aber – salopp ausgedrückt – zwar queer drauf steht, nicht unbedingt aber auch queer drin ist – zumindest dann nicht, wenn wir queer nicht ausschließlich als einen Überbegriff für LGBTIAQ+-Lebensweisen, vielmehr im Sinne der Queer Theory als einen Begriff heteronormativitätskritischer Dynamisierung, Veruneindeutigung und Entnaturalisierung lesen.

Letztgenannte Perspektiven stellen für mich ebenso zentrale wie unhintergehbare Erkenntnisse (und ‚Befreiungsschritte‘) der Queer Theory für den deutschsprachigen Bildungsdiskurs dar, hinter die queere Bildungspraxis nicht zurückfallen sollte. Insofern geht es für mich bei einer Q_P –im Unterschied zu einer einfachen LGBTIAQ+-Pädagogik – immer um Mehr als um Sichtbarkeit und Antidiskriminierung. Bewegungsorientiert und Theorie fundiert geht es um eine hetero-/cisnormativitätsbezogene Macht-und Identitätskritik, die sich in der Bildungsarbeit realisiert. Eine entsprechend queere Bildung ist kritisch-dekonstruktiv, bezieht sich nicht nur auf gesellschaftlich-kulturelle Machtwirkung zwischen dem Differenten, sondern auch auf die im Hervorbringungsprozess des Differenten selbstwirkende Macht. Und dies im Rahmen vieldimensionaler Differenzordnungen. Bei beiden Machtwirkungen spielen Erziehung und Bildung mit ihren Institutionen eine nicht unerhebliche Rolle und deren spezifisches Queering steht noch weitgehend aus.

Wie ich mit meinem Team im Rahmen des ‚Viel*Bar‘-Praxisforschungsprojekts festgestellt habe, fordert dabei der dekonstruktive-entnaturalisierende Part Pädagog_innen in der konkreten Bildungsarbeit wesentlich stärker heraus, als der kritische. Veruneindeutigung irritiert mehr und kann auf weniger Vorarbeiten zurückgreifen. Hier ist noch viel Entwicklungsarbeit gefordert. Es wäre kontraproduktiv –und mit Sicherheit nicht von euch als den Autor_innen des Manifests so gemeint –sich mit der Offenheit des Q_P-Gaps die Anstrengung der hier anstehenden theoriefundierten Entwicklungsarbeit zu sparen. Denn es stellt eine einmalige und für mich ganz wesentlich queere Geste im Feld der Pädagogik dar, dort, wo es um Bildungsprozesse geht – also um das Verhältnis der Subjekte zu sich selbst, zu anderen und zur Welt – dort, wo vielfältige Lebensweisen ermöglicht werden oder eben auch nicht – ein dynamisierendes Angebot zu machen, sich und andere anders als vorherrschend zu verstehen. Auch wenn Queer Theory uns gelehrt hat, dass es kein außerhalb der Norm geben kann und daher auch keine sichere Seite des Widerstands, auch wenn wir dem Gedanken folgen, dass in jeder Wideraufrufung zugleich eine Verschiebung steckt und sie damit das Potential der Veränderung schon in sich trägt, auch dann gilt es sich m.E. doch über zumindest vorübergehende Grundlagen sowie Orientierungslinien für die Praxis – die geopolitisch unterschiedliche sein mögen – zu verständigen, um diese im Spannungsverhältnis aus Essentials einer queeren Pädagogik auf der einen Seiten und Offenheit und Partizipation auf der anderen im konkret-situativen pädagogischen Fall durchdacht umsetzen oder zurückstellen zu können. Damit kein Missverständnis entstehen: Kein Mensch soll eine bestimmte queere Pädagogik umsetzen. Aber es macht durchaus Sinn sich bewegungsorientiert wie theoriefundiert darüber zu verständigen, an welchen Essentials eine Pädagogik orientiert sein soll, die sich den Namen queer gibt.

Ergänzung: Ihr habt mich in eurer Antwort auf meinen Beitrag gefragt, wo wir die Orte für die anstehenden Verständigungsprozesse finden. Ich denke hier zum Beispiel bei der Diskussion eurer Thesen. Darüber hinaus war für mich das Praxisforschungsprojekt VieL*Bar (https://www.ash-berlin.eu/forschung/forschungsprojekte-a-z/vielbar/) ein wichtiger Ort, wo wir als Wissenschaftler_innen als eine Art critical friends mit Pädagog_innen zusammengearbeitet haben. Diese verkörperten selbst – wie wir Forschenden – verschiedene Selbstverständnisse mit Blick auf ihr geschlechtliches und sexuelles Sein und arbeiteten mit Schulklassen zu geschlechtlicher und sexueller Vielfalt. Weiter waren Expert_innen beteiligt, die z.T. seit Jahrzehnten zum Themenbereich pädagogisch unterwegs sind. Einige von uns fühl(t)en sich zugleich auch zur queeren Community zugehörig. Darüber hinaus fallen mir noch Tagungen oder kollegiale Fortbildungsveranstaltungen ein. Auch der über Publikationen laufende Fachdiskurs – aber klar, da nehmen nur bestimmte Leute teil. Ich bin daher sehr gespannt, wie die Resonanz auf das Queer-Pädagogische Manifesto wird.

Herzliche Grüße,

Jutta Hartmann